beere8, 6KB

... zieht in den Krieg

12 Erdbeeren, 6 KB
  Ich begann die Mechanik des Kriegs zu verstehen:
dass Vernunft und Logik ausgeschaltet werden,
wenn der Krieg beginnt, und dass Wahnsinn
und Unlogik herrschen, solange er anhält.
  Richard Brautigan

»JAPS BOMB PEARL HARBOR« ist für den sechsjährigen Richard Brautigan die erste Verbindung zwischen Gelesenem und der Realität (Abbott, S. 89). Die vier folgenden Kriegsjahre sind ein wichtiger Bestandteil seiner Kindheit. Pünktlich zur 200-Jahr-Feier der USA 1976 bringt er Amerika in »Sombrero Fallout. A Japanese Novel« den Krieg zurück.

Die Geschichte beginnt ganz harmlos, ein österreichisches Ehepaar reist nach Sarajevo, nee 'Tschuldigung, das ist eine andere Geschichte. Die Sombrero-Geschichte beginnt mit einem amerikanischen Humoristen, der eine Geschichte zu schreiben beginnt, in der ein schwarzer Sombrero auf die Hauptstraße einer amerikanischen Kleinstadt fällt. Der Bürgermeister, sein Vetter und ein Arbeitsloser stehen um den Sombrero herum, und das war's auch schon; der Schreiber, der im Buch namenlos bleibt, wird vom Kummer über den Verlust seiner japanischen Freundin übermannt und zerreißt die Geschichte. Wen interessiert schon ein österreichisches Ehepaar, das im Wagen durch Sarajevo, nee, das ist wirklich eine andere Geschichte. Was ist hier los?


Er starrte immer noch die Papierschnitzel im Papierkorb an. Er starrte sie sehr konzentriert an, während sie sich da unten mit dem Abgrund befreundeten. Es war eine schwere Entscheidung, aber sie entschlossen sich, ohne ihn weiterzumachen.

Richard Brautigan, Sombrero vom Himmel, S. 21, Eichborn


Was jetzt passiert, ist eine langsam sich beschleunigende Entfesselung des Wahnsinns. Richard Brautigan verzichtet darauf, eine folgerichtige oder psychologische Handlung aufzubauen. Schlimmer noch, unanständigerweise werden die Ereignisse in einem comic-haften Stil erzählt.

 

Der Bürgermeister war völlig übergeschnappt.

Er brüllte jetzt nicht mehr die beiden Männer an, daß sie zu weinen aufhören sollten, und er drohte ihnen auch nicht mehr mit der Polizei.

Er brüllte jetzt Dinge, die keine Bedeutung hatten, wie zum Beispiel das Kennzeichen eines Autos, das er 1947 gefahren hatte.

»AZ 1492!« brüllte er.

»AZ 1492! AZ 1492! AZ 1492!« brüllte er in einem fort. Jedesmal wenn er die Autonummer brüllte, schien die Erregung der Menschenmenge heftiger zu werden. Seine Autonummer trieb die Menge zum Aufruhr. ...

»Ich hasse dich!« schrie eine einundsiebzigjährige Frau jemanden an, den sie nie im Leben gesehen hatte, und dann schlug sie diesem Jemand, einem älteren Mann, in die Eier. Der Mann knallte auf die Straße wie ein Stein, aber es gelang ihm noch, den Karton aufzumachen, den er dabeihatte, die Zitronencremetorte auszupacken, die er beim Bäcker gekauft hatte, und sie der alten Frau aufs Knie zu drücken. ...

In ein paar Tagen, wenn man die Leichen für die Beerdigung sichtete, würde der alte Mann nicht mehr identifizierbar sein. ... Er würde in einem Massengrab zusammen mit 225 anderen Unglücklichen begraben, die auch nicht mehr identifizierbar waren und keinerlei Ausweispapiere bei sich trugen.

Richard Brautigan, Sombrero vom Himmel, S.86-88, Eichborn


Als ob es nicht schon mutig genug wäre, durchgeknallte menschliche Verhaltensweisen auf durchgeknallte Art und Weise zu beschreiben, lässt Richard Brautigan nie einen Zweifel daran, daß dies eine amerikanische Geschichte ist.


Drei Tage später wurde die Stadt von den Truppen eingenommen.

Die Stadt hatte 6000 Menschenleben zu beklagen, darunter 162 verletzte Kinder, die ums Leben gekommen waren, als eine Rakete in ein Notlazarett einschlug, das im Keller einer Schule eingerichtet worden war. ...

Der Bürgermeister saß tot in einem Friseursessel.

Er hatte sein Bestes gegeben.

Er war nicht genug gewesen.

Aber er war trotzdem ein tapferer Mann.

Er hatte im Kampf alles gegeben.

Was läßt sich sonst sagen?

Er war Amerikaner.

Richard Brautigan, Sombrero vom Himmel, S. 175/76, Eichborn


Dieser kleine Bürgerkrieg wird schließlich dem amerikanischen Mythos einverleibt. Der Präsident hält eine gottesfürchtige Rede, die Stadt wird zum Nationaldenkmal erklärt und der Tourismus boomt. Weiß übrigens jemand, warum sich 200.000 Menschen vor Verdun haben zermatschen lassen?

Parallel zur Entwicklung des Massenwahns läuft die Geschichte des verzweifelten amerikanischen Humoristen weiter, der sich als eine ziemlich anstrengende Persönlichkeit entpuppt, mit anderen Worten: Richard Brautigan beschreibt sich selbst.


 
 

»One of the more complex things about Richard was his moodchanges,« his girlfriend Siew-Hwa Beh commented. »There was no pattern. It could be hour to hour, it could be days. A lot of that was mediated by drinks, but it was very hard to deal with. He could go from being real exuberant to very dark and depressed, he could get mean and nasty, or nostalgic or sentimental ...«

»We were together for two years - it seemed like a decade, it was so intense.«

Keith Abbott, Downstream from trout fishing in America, S. 79 u. 81

 
 

Er ließ sich von seinen Stimmungen beherrschen, und seine Stimmungen waren sehr wechselhaft. Manchmal redete er zuviel und dann wieder sagte er gar nichts. Er redete immer dann zuviel, wenn er trank. ...

Der Humorist hatte ein ungeheures Maß ihrer Energie aufgezehrt. Seine Unsicherheit und seine Neurosen hatten beständig nach ihrer seelischen Ausgeglichenheit verlangt und nach der Geborgenheit, die sie ihm geben konnte. Nach zwei Jahren hatte sie nicht mehr gewußt, wer sie selber eigentlich war.

Richard Brautigan, Sombrero vom Himmel, S. 39 u. 31, Eichborn


»Sombrero Fallout« erscheint gleichzeitig in Japan und den USA. In Japan werden Richard Brautigans Bücher ganz anders aufgenommen als im Westen, aber Japan ist eh etwas spezielles oder wie jemand mal sagte: Japan ist anders anders ...


7  <-  8  ->  9
alle Beeren alle Links alle Bücher